Einige Songs schreiben, arrangieren oder mixen sich fast von allein – zumindest kommt es einem manchmal so vor. Beginnt man bei Null bzw. „nur“ mit einem Text, begegnen einem auf dem Weg zum fertigen Stück allerdings Hunderte, manchmal Tausende Weichen, die gestellt werden müssen.
Viele dieser Entscheidungen trifft man reflexartig, weil man die Richtung, die ein Song nehmen soll, klar vor Augen hat. Aber daneben gibt es immer auch subtilere Fragen, die nicht ad hoc zu beantworten sind. In diesen Fällen muss man ausprobieren und die Ohren entscheiden lassen, z.B. ob der Bechstein- oder der Fazioli-Flügel besser zum Stück passt, oder ob die Synth-Fläche schon im zweiten oder erst im dritten Refrain zum Einsatz kommen soll – schlimmer noch: welcher der gefühlt 30.000 Pad-Sounds, die eine aktuelle DAW mitbringt. Und häufig geht es dabei gar nicht um besser oder schlechter, sondern nur um anders. Und dann kommt es vor, dass man sich verzettelt, obwohl alles so planmäßig schien …
Genau das ist bei einem unserer eigenen Songs passiert
Zuerst gab es den bitterbösen Text, „Never for nothing“, schnell kamen die Akkordfolgen für Strophe und Refrain hinzu, grobe Vorstellungen zur Instrumentierung waren auch vorhanden. „Einhämmernd“ sollte es klingen, wie der „Gang zum Hochgericht“, jedes Wort, jeder Akkord ein Schlag ins Gesicht (… dachte ich mir), aber gleichzeitig auch elegant und spöttisch, wie bei „The Beautiful South“ (… dachte sich S.). Ein erstes Demo für die Gesangsaufnahmen war zügig fertig, alles schien planmäßig.
War’s aber nicht: Es klang … lahm, träge, holprig, nicht „anklagend“, und „elegant“ schon mal gar nicht. Also haben wir zuerst noch 6 bpm draufgelegt, später auch noch 2 Halbtöne. Schon besser, viel besser, alles schien planmäßig.
131 (kein Scherz) Versionen später … – es blieb schwierig. Wir sind bei deutlich über 50 Spuren angekommen, allein 12 für die Vocals (erste, zweite, dritte Stimme, mehrere Aahs und Uuhs für die Backgrounds), 2 (gesampelte) Chöre, drei oder vier E-Gitarren, Mellotron, B3, Pads, Glockenspiel, Kirchenorgel und -glocken, viel Percussion und Drums, dazu viel Automation für Lautstärken und Effekte aller Art.
Nichts davon klang falsch oder fehl am Platz, und trotzdem: Wir hatten nicht den Eindruck, dass es „fertig“ war
Die Vorstellung des Arrangements in einem amerikanischen Musikerforum unter der Überschrift „Where to go with this song?“ ergab hingegen: „Was hast Du denn, alles gut so wie es ist, gefällt uns, vielleicht hier oder dort noch ein kleines bisschen Finetuning, aber alles in allem: Gut so, weitermachen!“
Das Problem: Fehlender Abstand?
Nach 131 Versionen und über einem halben Jahr Bearbeitungszeit (und, nebenbei, knapp 5 GB Daten): Ja, vermutlich. Kritische Distanz gibt es kaum noch, denn jede Phrase, jedes Instrument, jeder Ton wurde inzwischen zigmal gecheckt, umgedreht, finegetuned, korrigiert und gelegentlich auch wieder „auf Anfang“ zurückgesetzt.
Was also tun? Nochmal ganz von vorne anfangen?
Ja, zum Beispiel, jedenfalls: fast von vorne. Für den „Fast-Neustart“ haben wir lediglich die Vocals, Bass, B3 und Percussion, Songstruktur und Harmonien übernommen, und aus dem Tenor-Sax wurde mittlerweile eine Posaune. Aber das Wichtigste: Statt aller bisher harmonietragenden Instrumente kommen jetzt nur noch zwei Western-Gitarren zum Einsatz (ok, und die B3, auf die ich nur selten verzichten kann).
Jetzt besser?
Möglicherweise, ja, jedenfalls: anders ;-). Aber ich frage mal in die Runde: Welche Version (wie üblich noch ohne Vocals, da wir – trotz allem – noch nicht fertig sind) gefällt besser?
Hier der sehr dichte Mix (v131, gibt es schon länger auf der Seite Demos):
Und hier die deutlich luftigere Gitarren-Version (v137):